Roter Impuls
- Autorin Bettina Maria Brosowsky
- Fotos Jan Bitter
Nördlich der Georg August Universität in Göttingen liegt im Sartorius Quartier die neuartige Life Science Factory. Sie bietet Firmengründungen der Biotechnologie modernste Infrastruktur und verweist dabei in ihrer äußeren Gestalt auf das rote Mauerwerk historischer Bestandsbauten.
Ein vertrauter Vorgang in unseren Städten: Eine traditionsreiche, über Generationen gewachsene Firma entscheidet sich, ihren zunehmend beengt werdenden innerstädtischen Standort aufzugeben. Für das freiwerdende Areal bieten sich Chancen zu neuer städtebaulicher Schwerpunktsetzung, etwa für dringend benötigten Wohnungsbau. Als ein eher seltener Glücksfall kann es aber wohl gelten, wenn später nicht lediglich ein klangvoller Name oder Baurelikte an den vormaligen Standortcharakter erinnern, sondern, in einer Art Funktionskontinuität, zumindest in einem entscheidenden Teilbereich die Weiterführung einer verwandten Nutzung sowie das Engagement des bisherigen Eigentümers die Neuordnung prägen. Im Sartorius Quartier in Göttingen ist dieses Zusammenspiel geglückt.
Das Quartier verdankt seinen Namen dem Göttinger Unternehmen Sartorius. 1870 als Feinmechanische Werkstatt von Florenz Sartorius gegründet, ist es mittlerweile zu dem seit 2021 im DAX vertretenen, global operierenden Labor- wie Geräteausstatter der biopharmazeutischen Forschung und Industrie mit rund 16.000 Mitarbeitenden herangewachsen. Neuer Firmenhauptsitz ist seit 2018 der Sartorius Campus
nordwestlich der Göttinger Kernstadt.
Mauerwerk als Leitbild für Neubebauung
Das Sartorius Quartier am alten Standort liegt an der Weender Landstraße. Sie flankiert den Zentralcampus der Georg August Universität nördlich der Altstadt und durchzieht im weiteren Verlauf ein Mischgebiet aus schlichtem Wohnen und großflächigen Logistik- und Einzelhandelsbetrieben, das durchaus eine Aufwertung vertragen kann. Das Sartorius Quartier vermag hier einen ganz eigenen Akzent zu setzen, wie man beim Zutritt von der Weender Landstraße verspürt. Zwei größere, das neue Quartier prägende Altbauten bilden sein Herzstück, behutsam adaptiert als Gesundheitscampus der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Standort Göttingen. Ihr rotes Sichtmauerwerk wurde zum Leitbild für die Neubebauung im inneren Bereich, bestehend aus der Life Science Factory und einem Rehazentrum. Signet des Quartiers ist der um ein Panoramageschoss erhöhte Turm des vormaligen Chefbüros, nun für Gastronomie und Seminarräume genutzt. Hinter einer erhaltenen Giebelwand aus rotem Mauerwerk bietet die auf alter Grundfläche neu errichtete Sheddachhalle moderne Eventflächen mit historischem Verweis, ein Kranz aus Wohnen, Hotels und Gastronomie bildet in farblich abweichenden Fassadenmaterialien den äußeren Abschluss des Quartiers.
Bereits im Sommer 2015 fand ein Ideenwettbewerb für das rund 2,3 Hektar große Areal statt, den Holzer Kobler Architekturen aus Berlin für sich entschieden. Im Straßenverlauf liegt neuerlich ein Durchgang im Erdgeschoss, der die alte Durchlässigkeit des Areals wieder aufnimmt und als angenehme Passage Einblicke ins Gebäudeinnere bietet. Anschließend mit einen Masterplan beauftragt, durchlief ihre Planung diverse Veränderungen. So entschied sich die Geschäftsführung der Firma Sartorius, weiterhin am Standort aktiv zu bleiben, den historischen Kern des Geländes in eigenen Händen zu behalten und dort auch künftig wissenschaftlicher Forschung und technologischer Innovation Raum zu bieten – in der neuartigen Life Science Factory. Sie hält in vier Geschossen auf über 3.000 Quadratmetern alles Notwendige für Firmengründungen im Bereich Life Science, also der Biologie, Chemie, Pharmazie oder Medizin vor. Neben variablen, vollausgestatteten Laboren der Sicherheitsstufe S1, einer Prototyping-Werkstatt und Büros im Co-Working-Modus gehört ein individuell abrufbares Mentoring-, Coaching- und Veranstaltungsprogramm zum angebotenen Leistungsspektrum. „Konzentriere dich auf deine Forschung – wir kümmern uns um den Rest!“, wirbt die gemeinnützige Betreibergesellschaft für ihr europaweit bislang einzigartiges Komplettangebot.
Zelebrierung des Übergangs zwischen Alt und Neu
Kürzlich ist die Life Science Factory nach nur zwei Jahren Bauzeit fertiggestellt worden. Noch nicht voll belegt, fehlt noch die geschäftige Frequenz, die einmal Haus wie Quartier ausmachen soll. Holzer Kobler Architekturen, für den Neubau durch alle Leistungsphasen beauftragt, planten einen zweckmäßigen, DGNB Gold zertifizierten und gestalterisch knappen Funktionsbau. Als klassische Stahlbetonskelettkonstruktion folgt die Baukörperkontur der leicht konischen Grundstücksaufweitung
an der Annastraße. Die nördliche Begrenzungswand schließt bündig an die historische Bestandsfassade der Sheddachhalle an, zelebriert hier exemplarisch den versatz- und fugenlosen Übergang zwischen zwei Baukörpern, auch zwischen Alt und Neu. Diese Flächigkeit, lediglich als dünne Haut ausgebildet, spielt die Fassade der Life Science Factory konsequent in einer Bekleidung aus rund 1.500 Quadratmetern Klinkerriemchen der Firma Röben, Sortierung MARSEILLE, rot-bunt aus.
In Pfeiler- und Sturzflächen wurden die 14 Millimeter starken Riemchen als unkonventioneller Stapelverband mit Kreuzfugen auf eine armierte, 20 Zentimeter starke Mineralfaserdämmung geklebt und mit einer farbgleichen Verfugung homogenisiert: Ein dezenter Fingerzeig Richtung Materialität und Farbigkeit des roten Sichtmauerwerks im Bestand. Ecken sind mit Winkelelementen der Riemchen gefasst, Sohlbänke und Attikaabdeckungen als durchgefärbte Fertigteile in Glasfaserbeton vervollständigen die Monochromie des Fassadenkleides. Wie in Fliesenplänen laufen horizontale wie vertikale Fugen um alle Fenster- und Toröffnungen über alle Geschosse. Diese exakte Fassadengrafik verleiht dem Gebäude eine fast virtuelle, auf jeden Fall sehr saubere Anmutung, die durchaus dessen Funktion als Laborbau widerspiegelt.
Holzer Kobler Architekturen
Holzer Kobler Architekturen wurde 2004 von Barbara Holzer und Tristan Kobler in Zürich gegründet und hat seit 2012 einen weiteren
Standort in Berlin. Das international agierende Büro deckt ein breites Spektrum von Städtebau bis Architektur, von Szenografie bis hin zum
Kuratieren von Ausstellungen ab. Wesentlich stehen für Holzer Kobler Architekturen programmatische Innovation, ästhetische Identität und
die Charakteristik des Kontexts im Fokus der Auseinandersetzung mit Architektur und Raum.
www.holzerkobler.com